Praktische Wege, um deine Gefühle zu verstehen und anzunehmen, statt sie zu unterdrücken oder zu bewerten
In einer Welt, die ständig Urteile fällt, kann es revolutionär sein, einen Raum der Nicht-Bewertung zu erschaffen – besonders wenn es um unsere eigenen Gefühle geht. Allzu oft reagieren wir auf unsere Emotionen mit automatischen Urteilen: "Diese Wut ist unangemessen." "Ich sollte nicht traurig sein." "Diese Angst ist irrational."
In diesem Raum erforschen wir einen anderen Weg: Die Kunst, unsere Gefühle zu verstehen, statt sie zu bewerten. Hier findest du praktische Ansätze, die dir helfen, eine neue Beziehung zu deinen Emotionen zu entwickeln – eine Beziehung, die auf Neugierde, Akzeptanz und tieferem Verständnis basiert.
Entdecke, wie Verstehen statt Bewerten den Weg öffnen kann für mehr emotionale Freiheit, Selbstmitgefühl und authentische Verbindung mit dir selbst und anderen.
09.05.2025
Es gab diesen Moment im Supermarkt. Mein Korb war voll, die Schlange lang und meine Geduld dünn. Als die Kassiererin dann auch noch langsam arbeitete, spürte ich Wut in mir aufsteigen – eine unverhältnismäßige, brennende Wut. Mein erster Gedanke: "Was ist los mit mir? Warum rege ich mich über so eine Kleinigkeit so auf? Das ist peinlich. Reiß dich zusammen."
Kommt dir dieses innere Urteil bekannt vor? Diese reflexartige Bewertung unserer eigenen Gefühle ist so alltäglich, dass wir sie kaum bemerken. Doch genau diese automatischen Urteile können uns den Zugang zu unserer emotionalen Weisheit versperren und uns in Kreisläufe von Selbstkritik und emotionaler Unterdrückung führen.
Was wäre, wenn wir einen anderen Weg finden könnten? Was, wenn wir unseren Gefühlen mit derselben neugierigen, offenen Haltung begegnen könnten, mit der ein Naturforscher eine neu entdeckte Pflanze betrachtet – nicht um sie zu bewerten, sondern um sie zu verstehen?
Die Stimme des inneren Richters erkennen
Der erste Schritt auf dem Weg zu einer nicht-wertenden Beziehung mit unseren Gefühlen ist, die Stimme des inneren Richters überhaupt zu erkennen. Diese Stimme ist oft so vertraut, dass wir sie für unsere eigene halten oder für die "Stimme der Vernunft".
Der innere Richter spricht oft in absoluten Begriffen:
Diese Urteile haben ihre Wurzeln oft in frühen Botschaften, die wir als Kinder erhielten: "Große Mädchen weinen nicht." "Stell dich nicht so an." "Wenn du wütend bist, bist du nicht liebenswert." Mit der Zeit verinnerlichen wir diese Bewertungen und richten sie gegen uns selbst.
Von der Bewertung zum Verstehen: Ein Paradigmenwechsel
Wie können wir nun diese tief verwurzelte Gewohnheit des Bewertens transformieren? Hier sind praktische Wege, um eine neue, verständnisvollere Beziehung zu unseren Gefühlen zu entwickeln:
1. Die beschreibende statt bewertende Sprache
Eine der kraftvollsten Praktiken ist, die Sprache zu verändern, mit der wir über unsere Gefühle sprechen – sowohl laut als auch in unseren Gedanken. Statt "Diese Wut ist unangemessen" könnten wir sagen: "Da ist Wut. Sie fühlt sich heiß an und sitzt in meiner Brust."
Diese beschreibende Sprache schafft sofort einen anderen Raum: Sie erlaubt dem Gefühl, einfach da zu sein, ohne es sofort in eine Kategorie von "gut" oder "schlecht" einzuordnen. Sie öffnet die Tür für Neugierde und Erforschung.
2. Die Frage nach dem Bedürfnis hinter dem Gefühl
Jedes Gefühl, besonders jedes intensive oder wiederkehrende Gefühl, weist auf ein Bedürfnis hin – erfüllt oder unerfüllt. Anstatt das Gefühl zu bewerten, können wir fragen: "Welches Bedürfnis zeigt sich durch dieses Gefühl?"
Meine scheinbar übertriebene Wut im Supermarkt? Als ich ihr mit Neugierde statt mit Urteil begegnete, erkannte ich: Sie hatte nichts mit der Kassiererin zu tun. Sie zeigte mein unerfülltes Bedürfnis nach Raum und Ruhe nach Wochen intensiver Arbeit und sozialer Verpflichtungen. Die Schlange im Supermarkt war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Diese Perspektive verwandelt selbst schwierige Gefühle von Störfaktoren in wertvolle Informationsquellen über unsere tieferen Bedürfnisse.
3. Die Metapher des emotionalen Wetters
Eine hilfreiche Metapher ist, unsere Gefühle wie Wetter zu betrachten – vorüberziehende Phänomene, die weder gut noch schlecht sind, sondern einfach Teil der natürlichen emotionalen Atmosphäre.
Wie das Wetter verändern sich Gefühle ständig. Sie kommen und gehen. Manchmal gibt es Stürme, manchmal strahlenden Sonnenschein, manchmal einen sanften Nebel. Wir würden nie einen Regentag als "falsch" oder "unangemessen" bezeichnen. Was, wenn wir unsere emotionalen Regentage mit der gleichen Akzeptanz betrachten könnten?
Diese Metapher hilft uns, uns weniger mit unseren Gefühlen zu identifizieren. Statt "Ich bin wütend" wäre es "Da ist Wut in mir, wie ein Gewitterschauer, der durchzieht."
4. Die Praxis der mitfühlenden Zeugenschaft
Eine besonders kraftvolle Übung ist, die Rolle eines mitfühlenden Zeugen für deine eigenen Gefühle einzunehmen. Stell dir vor, ein geliebter Mensch würde dir von genau diesem Gefühl erzählen, das du gerade erlebst. Wie würdest du reagieren?
Vermutlich nicht mit "Du solltest nicht so fühlen" oder "Das ist irrational". Sondern eher mit Interesse, Mitgefühl und dem Wunsch zu verstehen.
Diese mitfühlende Zeugenschaft können wir auch uns selbst schenken. Es ist die Haltung, die sagt: "Ich sehe dich. Ich bin hier bei dir. Ich möchte verstehen, was in dir vorgeht."
5. Das emotionale Tagebuch neu gedacht
Viele von uns führen eine Art emotionales Tagebuch – sei es auf Papier oder in Gedanken. Oft nimmt dieses Tagebuch allerdings die Form einer Bewertung an: "Heute war ich wieder übermäßig sensibel" oder "Ich sollte diese Eifersucht endlich überwinden."
Versuche stattdessen, dein emotionales Tagebuch als ein Forschungstagebuch zu konzipieren. Wie würde ein neugieriger Forscher deine emotionalen Erfahrungen beschreiben? Welche Muster würde er erkennen? Welche Zusammenhänge zwischen Situationen, Gedanken und Gefühlen?
Diese forschende Haltung ersetzt Urteile durch Erkenntnisse und schafft eine ganz neue Art der Beziehung zu deiner emotionalen Welt.
Die tieferen Schichten: Verstehen als Weg zur Transformation
Der Übergang vom Bewerten zum Verstehen mag zunächst wie eine subtile Verschiebung erscheinen. Doch seine Auswirkungen können tiefgreifend sein:
Emotionale Flexibilität statt Rigidität
Wenn wir aufhören, unsere Gefühle zu bewerten, erlauben wir ihnen, durch uns hindurchzufließen, statt an ihnen festzuhalten oder sie wegzudrücken. Diese emotionale Flexibilität – die Fähigkeit, das ganze Spektrum unserer Gefühle zu erleben und sich von ihnen wieder zu lösen – ist ein Kernaspekt emotionaler Gesundheit.
Tiefere Selbsterkenntnis
Hinter unseren intensivsten, scheinbar "irrationalen" Gefühlen liegen oft unsere tiefsten Überzeugungen, Werte und unerfüllten Bedürfnisse. Indem wir diesen Gefühlen mit Neugierde statt mit Urteil begegnen, öffnen wir die Tür zu einem tieferen Selbstverständnis.
Zugang zur emotionalen Weisheit
Unsere Gefühle enthalten eine eigene Form der Intelligenz. Sie verarbeiten Informationen auf Ebenen, die unserem rationalen Denken oft nicht zugänglich sind. Wenn wir sie be-urteilen, schneiden wir uns von dieser emotionalen Weisheit ab.
Authentischere Verbindungen
Wenn wir unsere eigenen Gefühle bewerten, neigen wir dazu, auch die Gefühle anderer zu bewerten. Dies schafft Distanz und Verschlossenheit. Wenn wir hingegen lernen, unseren eigenen Gefühlen mit Verständnis zu begegnen, können wir diese offenere Haltung auch in unsere Beziehungen einbringen.
Ein Weg des Übens, nicht der Perfektion
Der Weg vom Bewerten zum Verstehen ist kein einmaliger Schritt, sondern eine fortwährende Praxis. Der innere Richter wird nicht über Nacht verschwinden. Er hat uns schließlich lange begleitet und hatte ursprünglich einen Zweck – meist den Versuch, uns zu schützen oder anzupassen.
Es geht nicht darum, diese innere Stimme zum Schweigen zu bringen, sondern sie als eine von vielen inneren Stimmen zu erkennen – eine, die wir anhören können, ohne ihr automatisch zu folgen.
Mit der Zeit kann eine neue innere Stimme wachsen und stärker werden: Die Stimme der Neugierde, des Verständnisses und des Mitgefühls. Diese Stimme fragt: "Was ist hier wirklich los? Was zeigt mir dieses Gefühl? Welchen Teil von mir kann ich durch dieses Gefühl besser kennenlernen?"
Diese fragende, verstehende, nicht-wertende Haltung unseren Gefühlen gegenüber öffnet einen Raum der inneren Freiheit. Sie erlaubt uns, das volle Spektrum unseres emotionalen Erlebens zu integrieren und dadurch reicher, voller und authentischer zu leben.
Welches Gefühl bewertest du bei dir selbst am häufigsten? Und wie würde sich deine Beziehung zu diesem Gefühl verändern, wenn du ihm mit Verstehen statt mit Bewertung begegnen würdest?
©Urheberrecht. Alle Rechte vorbehalten.
Wir benötigen Ihre Zustimmung zum Laden der Übersetzungen
Wir nutzen einen Drittanbieter-Service, um den Inhalt der Website zu übersetzen, der möglicherweise Daten über Ihre Aktivitäten sammelt. Bitte überprüfen Sie die Details in der Datenschutzerklärung und akzeptieren Sie den Dienst, um die Übersetzungen zu sehen.