Einfühlsame Gedanken zu Übergangsphasen und dem Prozess der Neuorientierung
Es gibt diese besonderen Zeiten im Leben, in denen wir nicht mehr ganz im Alten und noch nicht ganz im Neuen sind. Zeiten, in denen wir uns in einem Zwischenraum befinden – zwischen dem, was war, und dem, was erst im Entstehen begriffen ist. Diese Schwellenphasen können uns verunsichern und herausfordern, bergen aber auch ein besonderes Potenzial für Transformation und Wachstum.
In diesem Raum betrachten wir mit Einfühlsamkeit und Tiefe die Natur dieser Übergänge. Hier findest du Gedanken, Reflektionen und Impulse, die dir helfen können, die Zeit "zwischen den Welten" nicht nur zu überstehen, sondern bewusst zu durchleben und ihre verborgene Weisheit zu entdecken.
Lass dich begleiten auf der Reise durch diese manchmal neblige, manchmal klare, immer aber bedeutsame Landschaft der Transformation.
09.05.2025
Es gibt diesen besonderen Raum zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht. Einen Raum, in dem wir das Vertraute verlassen haben, aber das Neue noch nicht erreicht. Die Anthropologen nennen es den "liminalen Raum" – abgeleitet vom lateinischen "limen", die Schwelle. Es ist jener Zwischenbereich, in dem wir weder vollständig dem alten Zustand angehören noch ganz im neuen angekommen sind.
Vielleicht befindest du dich gerade in einem solchen Zwischenraum. Vielleicht ist eine Beziehung zu Ende gegangen, aber eine neue hat noch nicht begonnen. Vielleicht hast du deinen Job gekündigt, weißt aber noch nicht, was als Nächstes kommt. Vielleicht sind die Kinder ausgezogen, und du stehst vor der Frage, wer du jenseits der Mutterrolle bist. Oder vielleicht spürst du einfach, dass eine Lebensphase sich dem Ende zuneigt, während eine neue noch im Nebel der Zukunft liegt.
Diese Zeit zwischen den Welten kann sich unbequem anfühlen, sogar beängstigend. Unsere Kultur, die Klarheit, Effizienz und Zielstrebigkeit wertschätzt, bietet uns wenig Unterstützung für das Navigieren in diesem Zwischenreich. Und doch – was wäre, wenn diese Schwellenphase nicht nur eine Zeit des Wartens oder Durchhaltens wäre, sondern ein besonderer, heiliger Raum mit eigener Weisheit und Tiefe?
Die Natur der Übergänge verstehen
In seinem wegweisenden Werk "Übergangsriten" beschrieb der Anthropologe Arnold van Gennep drei Phasen jedes bedeutenden Übergangs: die Trennungsphase (das Loslassen des Alten), die Schwellenphase (das Zwischen) und die Integrationsphase (das Eintreten ins Neue). Der Ethnologe Victor Turner vertiefte später besonders das Verständnis jener mittleren Phase – des Liminalen.
Diese Struktur findet sich in den Übergangsritualen aller Kulturen, aber auch in unseren persönlichen Lebenswenden. Was uns heute oft fehlt, sind die Rituale und das kulturelle Verständnis, die uns helfen, diese Phasen bewusst zu durchleben, besonders die mittlere, die Schwellenphase.
Die Schwellenphase ist gekennzeichnet durch eine gewisse Ambiguität, durch ein Nicht-mehr-Sein und Noch-nicht-Sein. Es ist eine Zeit, in der die alten Regeln und Strukturen nicht mehr gelten, die neuen aber noch nicht etabliert sind. Eine Zeit außerhalb der gewohnten Ordnung. Und gerade darin liegt ihre transformative Kraft.
Die verborgene Weisheit der Zwischenräume
In unserer zielorientierten Kultur neigen wir dazu, Übergangsphasen als Störung zu betrachten, als etwas, das wir so schnell wie möglich hinter uns bringen müssen. Wir wollen den Schmerz der Trennung überwinden, die Unsicherheit des Dazwischen umgehen und so rasch wie möglich im neuen Zustand ankommen.
Doch diese Haltung übersieht die einzigartige Weisheit und die besonderen Möglichkeiten, die in der Schwellenphase liegen. Hier sind einige der tieferen Qualitäten dieses Zwischenraums:
Die Gnade der Nicht-Wissens
In der Schwellenphase müssen wir lernen, mit Unsicherheit und Ungewissheit zu leben. Dies kann zutiefst unbequem sein für einen Geist, der nach Kontrolle und Planbarkeit strebt. Und doch liegt in diesem Nicht-Wissen auch eine besondere Gnade. Es öffnet uns für neue Möglichkeiten, die wir vielleicht übersehen hätten, wenn wir zu schnell nach neuen Gewissheiten gegriffen hätten.
"Nach meiner Scheidung hätte ich am liebsten sofort gewusst, wie mein Leben weitergehen wird," erzählte mir eine Freundin. "Stattdessen musste ich lernen, im Nicht-Wissen zu leben. Und genau in diesem Raum des Nichtwissens entstanden völlig neue Möglichkeiten, an die ich vorher nie gedacht hätte."
Die Tiefe des Zwischen-Raums
Die Schwellenphase ist kein leerer Raum des Wartens, sondern ein tiefer Raum des Werdens. Unter der scheinbaren Stille kann eine intensive Transformation stattfinden – ähnlich wie in einem Kokon, wo scheinbar nichts geschieht, während tatsächlich eine tiefgreifende Verwandlung im Gange ist.
Diese Zeit kann uns einladen, tiefere Schichten unseres Seins zu erkunden, Fragen zu stellen, die wir lange vermieden haben, und in Kontakt mit unseren authentischsten Wünschen und Werten zu kommen.
Die Freiheit der Undefiniertheit
In Übergangsphasen werden wir oft von unseren gewohnten Rollen und Identitäten befreit. Dies kann verunsichernd sein – wer sind wir, wenn wir nicht mehr die Partnerin, die Mutter, die Karrierefrau, die wir zu sein glaubten, sind? Und doch liegt in dieser zeitweiligen Undefiniertheit auch eine große Freiheit.
"Als meine Kinder aus dem Haus waren und meine Karriere nicht mehr im Mittelpunkt stand, fühlte ich mich zunächst verloren," erzählt Marina, 57. "Aber dann erkannte ich, dass ich zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Freiheit hatte, mich zu fragen: Wer bin ich wirklich, jenseits all dieser Rollen?"
Die Gemeinschaft der Schwelle
In traditionellen Kulturen durchlaufen Menschen Übergangsrituale oft in Gemeinschaft. Auch in unseren modernen Übergängen können wir eine besondere Verbundenheit zu anderen Menschen in ähnlichen Schwellenphasen erfahren. Es entsteht eine Art "Communitas", wie Turner es nannte – eine Gemeinschaft jenseits der üblichen sozialen Strukturen und Hierarchien.
Diese Verbundenheit mit anderen, die ebenfalls "zwischen den Welten" sind, kann eine wichtige Quelle der Unterstützung und Erkenntnis sein.
Praktische Wege, um die Schwellenzeit bewusst zu leben
Wie können wir nun diese Zeit zwischen den Welten nicht nur überstehen, sondern bewusst und tief leben? Hier sind einige Gedanken und praktische Impulse:
Das Zwischen-Sein würdigen
Ein erster wichtiger Schritt ist, die Schwellenphase als eigenständigen, wertvollen Raum anzuerkennen – nicht nur als unangenehme Übergangszeit. Dies kann bedeuten, bewusste Rituale zu schaffen, die diesen besonderen Zustand würdigen:
Die Ambiguität umarmen
Anstatt gegen die Unsicherheit und Unklarheit dieser Phase anzukämpfen, können wir lernen, sie als Teil des Prozesses anzunehmen:
Die tiefere Zeit des Werdens respektieren
Unsere Kultur drängt oft auf schnelle Übergänge und rasche Lösungen. Doch bedeutsame Transformationen brauchen ihre eigene Zeit:
Die Poesie des Übergangs entdecken
Künstlerische und kreative Ausdrucksformen können uns helfen, die komplexen, oft schwer in Worte zu fassenden Erfahrungen der Schwellenzeit zu artikulieren:
Die Gemeinschaft der Schwelle finden
Wir müssen den Übergang nicht allein durchleben. Andere Menschen in ähnlichen Phasen können wichtige Wegbegleiter sein:
Die reiche Ernte der Zwischenzeit
Was wächst und reift in dieser Zeit zwischen den Welten? Welche Früchte kann diese besondere Phase tragen?
Tiefere Selbsterkenntnis
In der Loslösung von gewohnten Rollen und Strukturen können wir Aspekte unseres Selbst entdecken, die lange im Verborgenen lagen. Die Frage "Wer bin ich jenseits meiner gewohnten Identitäten?" kann zu überraschenden und befreienden Erkenntnissen führen.
Authentischere Entscheidungen
Die Schwellenzeit gibt uns die Möglichkeit, Entscheidungen aus einer tieferen Verbindung mit uns selbst zu treffen, statt aus alten Mustern oder äußeren Erwartungen heraus. Wenn wir dem Prozess vertrauen und keine vorschnellen Lösungen erzwingen, können wir Wege finden, die wahrhaft unsere eigenen sind.
Erweiterte Perspektive
Das Zwischen-Sein öffnet oft unseren Blick für Möglichkeiten, die wir vorher nicht gesehen haben. Es ist, als würden wir uns von einem Aussichtspunkt aus umsehen, bevor wir den nächsten Weg einschlagen, statt mit gesenktem Blick weiterzugehen.
Tiefere Verbindung
Die gemeinsame Erfahrung des Übergangs kann zu tieferen, authentischeren Verbindungen mit anderen führen – zu einer Gemeinschaft jenseits von Status, Rollen und oberflächlichen Unterschieden.
Spirituelles Wachstum
Viele spirituelle Traditionen sprechen von der transformativen Kraft des "heiligen Zwischen" – dem Raum, in dem altes Wissen in Frage gestellt wird und neue Weisheit geboren werden kann. Die Schwellenzeit kann zu einer Zeit tiefer spiritueller Öffnung und Erneuerung werden.
Ein Segen für die Schwellenzeit
Zum Abschluss möchte ich dir einen Segen für diese besondere Zeit des Zwischen-Seins mitgeben:
Mögest du den Mut finden, an der Schwelle zu verweilen, auch wenn jede Faser deines Wesens nach Gewissheit schreit.
Mögest du die Weisheit erkennen, die in diesem heiligen Zwischen wohnt – nicht nur als Durchgang, sondern als ein Raum mit eigener Tiefe und Bedeutung.
Mögest du freundliche Begleiter auf diesem Weg finden – sowohl unter den Lebenden als auch in den Geschichten und Weisheitstraditionen, die von dieser zeitlosen Erfahrung des Übergangs zeugen.
Mögest du entdecken, dass du nie wirklich "zwischen den Welten" bist – sondern immer genau dort, wo du sein sollst, im ewigen Tanz des Werdens.
In welcher Schwellenphase befindest du dich gerade? Und wie wäre es, diese Zeit nicht nur als Übergang zu einem Ziel zu betrachten, sondern als einen wertvollen Raum mit eigener Weisheit?
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